Bitte lesen Sie auch den eindrucksvollen Bericht über die erste Wiederaufführung der Herbstsymphonie nach 80 Jahren in Graz (Oktober 2005): Vorgeschichte, Erlebnis und Rezeption der Herbstsymphonie-Konzerte in Graz |
»Wie ist es möglich, daß ein solcher Ausnahmekomponist vergessen wurde?«
Riccardo Chailly
Laut dem Musikwissenschaftler Peter Blaha, Chefdramaturg der Wiener Staatsoper, weckt das akustische Erleben der Herbstsymphonie unweigerlich Assoziationen an die »Kategorie des Erhabenen« nach Kant, womit der Philosoph das benennt, was uns als Großes gegenübertritt und uns beeindruckt, das wir aber zunächst gar nicht wirklich erfassen können. Mit ihrer enormen Komplexität, ihrer klanglichen Wucht und ihrem mystischen Hintergrund erzeugt die Herbstsymphonie beim Hörer ein derartiges Maß an Überwältigung, daß schon eine gewisse Anzahl von Hörerlebnissen nötig sein wird, damit man das Werk nach und nach begreifen und in seiner vollen Schönheit genießen kann. Bei der musikhistorisch unumgänglichen und musikalisch absolut erforderlichen Wiederentdeckung dieses so außergewöhnlichen Komponisten stellt das derzeit stetig wachsende Interesse an seiner Musik sicherlich einen großen Schritt hin zur Erreichung eines wichtigen Zieles dar – der internationalen Renaissance des Komponisten Joseph Marx als bedeutender Symphoniker.
»Mit der Herbstsymphonie war Joseph Marx seiner Zeit weit voraus.«
Riccardo Chailly
Der Dirigent Riccardo Chailly, der sich im Sommer 2006 intensiv mit der 280 Seiten starken Riesenpartitur der Herbstsymphonie befaßt hat, äußerte in einem Gespräch mit dem Autor dieses Artikels seine große Begeisterung über dieses Werk und sagte, daß die unkonventionelle, hochmoderne Harmonieführung und die kunstvoll verschachtelte Struktur der Partitur ein klarer Beweis dafür seien, daß Joseph Marx als tonaler Komponist seiner Zeit weit voraus war. Diese Ansicht wird inzwischen von vielen Musikfachleuten, die das Oeuvre von Joseph Marx eingehend studiert haben, geteilt. So hat beispielsweise auch Friedrich Cerha, einer der führenden zeitgenössischen Komponisten Österreichs, berichtet, daß Joseph Marx als äußerst geistreicher Musikwissenschaftler und innovativer Komponist, trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Avantgarde, eine anerkannte Koryphäe gewesen sei. Cerha beschrieb, wie er selbst Mitte der Fünfziger Jahre — als damals rund 30-jähriger, der Avantgarde zugetaner Jungkomponist — stundenlang völlig verblüfft über der Partitur der Herbstsymphonie gesessen und über die außerordentliche Komplexität dieses Werkes gestaunt habe. Cerha lobt auch weitere Orchesterwerke von Joseph Marx wie beispielsweise die viersätzige Nordland-Rhapsodie.
Doch nicht nur Riccardo Chailly sowie Friedrich Cerha, prominentestes Gründungsmitglied der Joseph-Marx-Gesellschaft, sind von Marxens Qualitäten als Ausnahmekomponist überzeugt, sondern auch viele weitere namhafte Künstler und Leute vom Fach wie Thomas Hampson, Waldemar Kmentt und Wilhelm Sinkovicz. Die Zeit für die Renaissance dieses Komponisten scheint also gekommen.
»Joseph Marx, Führer des musikalischen Österreich.« (Wilhelm Furtwängler, Dirigent, im Jahre 1952)
In dem Jahrzehnt ab 1909, der Zeit des großen internationalen Erfolgs seiner Lieder, galt Joseph Marx als reiner Liedkomponist, obwohl er zwischenzeitlich einen reichhaltigen Fundus an klangvollen Chorwerken (u.a. Herbstchor an Pan und Ein Neujahrshymnus), Klavier- und Kammermusik und sogar ein 40-minütiges Klavierkonzert vorgelegt hatte – Werke, die allesamt mit großem Erfolg von namhaften Künstlern und Ensembles aufgeführt wurden. Erst mit seiner Herbstssymphonie gelang es dem »Meister des Wohlklangs«, sich vom Ruf als Liedkomponist zu lösen und mit einem Werk in die Musikgeschichte einzugehen, das in mehrfacher Hinsicht ein Kunstwerk der Superlative darstellt. Doch auch Marx hat am 21. November 1921, als er in Grambach/Graz den Schlußstrich unter die Partitur der Herbstsymphonie setzte, wohl kaum erahnen können, welch polarisierende Rolle das Werk im Musikleben des damaligen Wien spielen sollte. Und was hätte Marx sich wohl gedacht, wenn er damals geahnt hätte, daß die Herbstsymphonie nach 1927 für sage und schreibe acht Jahrzehnte verstummen sollte?
Zweifellos hat die Herbstsymphonie ein Schicksal erlitten, wie es für einen derartigen Meilenstein der Symphonik nicht schlimmer hätte kommen können. Bereits die Generalprobe und die Uraufführung des Werkes am 5. Februar 1922 (Felix Weingartner dirigierte die Wiener Philharmoniker) standen unter keinem guten Stern: Als eine Gruppe von Saboteuren mitgebrachte Pfeifen benutzte, um die Aufführung gezielt zu stören und den Ablauf zu behindern, geriet das Ganze zu einem regelrechten Skandal. Es kam mitten im Konzertsaal sogar zu Ausschreitungen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Saboteuren und dem Teil des Publikums, der sich das Werk in Ruhe anhören wollte. Diese unglaublichen Vorfälle, über die noch lange danach diskutiert wurde, dauerten laut Zeitungsberichten eine ganze Viertelstunde; erst dann konnte die Aufführung ungestört beginnen.
Auch wenn Joseph Marx, der zu dem Zeitpunkt Direktor der Wiener Musikakademie und einer der bedeutendsten Komponisten und Musikpädagogen Österreichs war, nicht genau wußte, wer diese Saboteure eigentlich waren, war er sich der Außergewöhnlichkeit seiner Symphonie und ihrer polarisierenden Wirkung und technischen Schwierigkeiten doch voll und ganz bewußt. So schrieb er einem Freund am 22. März 1922:
»Meine Symphonie hat bei Publikum und Presse stürmischen Beifall sowie Protest erweckt. [...] Der Grund der Opposition lag – abgesehen natürlich von der beträchtlichen Modernität des Werkes in harmonischer und hauptsächlich orchestraler Beziehung – in dem nicht genügenden Studium des recht schwierigen Werkes. Es standen nur drei Proben zur Verfügung, die Sache ging im Tempo gerade so, daß alle Noten da waren – natürlich alles im Rohbau, nichts dynamisch herausgearbeitet. Nichtsdestoweniger blieb doch noch so viel vom Werk übrig, daß man – wenn man Ohren hatte und wollte – was Erträgliches hören konnte.«
Es ist ein untrüglicher Beweis für die ungemein hohe Qualität dieses Werkes, daß trotz des technischen und interpretatorischen Mißerfolgs der Premiere die meisten Kritiken überschäumend waren. So heißt es im Wiener Extrablatt vom 5. Februar 1922:
»Das Riesenwerk, das sich mit kühnem Schwung an die Spitze des modernen Orchesterschaffens stellt, das alle Erwartungen und Befürchtungen übertraf und das den Dirigenten sowie die Meister des besten Orchesters der Welt vor ganz neue und unerhörte Aufgaben stellt, weckte teils heftigen Protest, teils stürmische Begeisterung, die sich im Hervorrufen des Komponisten Luft machte. Ein Teil des Publikums rief ohne Unterlaß ‚Marx, Marx, Marx’.«
Am 16. Februar 1922 schrieb das Wiener Extrablatt:
»Eine Sturmflut von Harmonien und Disharmonien, wie sie noch nie aus dem modernen Orchester hervorbrach. Die romanische, die südliche Grundfarbe leuchtet aus den Tiefen dieses Orchesters... modern die Kühnheit der Mischung, die der Meister und Beherrscher der Polyphonie an den Tag fördert.«
Einen weiteren Hinweis auf die unumstrittene Kompetenz des Komponisten lieferte die Wiener Morgenzeitung in einem Artikel vom 17. Februar 1922:
»Bei einem Musiker von der Individualität Joseph Marx’ ist es müßig, Einflüssen nachzuspüren, die in der Zeit liegen. In dem Reichtum der melodischen Erfindung, in den komplizierten Akkord- und Klangmischungen und in der liebevollen Naturschilderung ist die Symphonie echtester Marx.«
Den Vorwurf einiger weniger Kritiker, daß seine Symphonie aufgrund ihrer »ungegliederten Länge« Langeweile hervorrufe, entkräftete Marx selbst am 9. Februar 1922 in einem offenen Brief an den Wiener Musikreferenten Hans Liebstöckl:
»Wo bleibt da die ‚Psychologie’? Vermögen Werke, die nur langweilig sind, die Gemüter so heftig zu erregen? Meines Wissens sind in Konzerten des öfteren noch bedeutend längere und wohl langweiligere Werke als meine Symphonie ohne Protest gespielt worden! Einige behaupten, ich wäre ja nicht einmal moderner als Strauss, Debussy und Schreker. Ist das etwa gar so ‚unmodern’?«
Trotz der Popularität seiner Musik und seines zu Lebzeiten uneingeschränkten Rufes als Autorität hatte Joseph Marx immer musikalische Oppositionen gegen sich. In seinem oben zitierten Brief an Liebstöckl schrieb er an anderer Stelle:
»Als ich meine zahlreichen Lieder geschrieben hatte, hieß es allgemein, es wären ‚Klavierkonzerte mit obligater Singstimme’, die fast immer zu kurz kommt, und von solchem Schwierigkeitsgrad, daß an eine weitere Verbreitung meiner Lieder nicht zu denken sei; heute kann man diese Stücke nicht nur in allen Konzertsälen, sondern sogar in Vergnügungslokalen als seriöse Zwischennummern hören. Als ich mein Klavierkonzert (»Romantisches Klavierkonzert« von 1919) aufführen ließ, ward es als ‚Symphonie mit obligatem Klavier’ bezeichnet. Und jetzt findet man wieder, die Herbstsymphonie bestehe bloß aus ein paar Liedern! Es ist ein circulus vitiosus. Nachträglich will man mir den Erfolg mit der teilweisen Ablehnung vermiesen...«
Auch in den späten Dreißiger Jahren, als Marx seine Streichquartette »in modo antico" und »in modo classico« schrieb, die heute als humanistische Denkmäler des Komponisten gegen den von Nazideutschland zu verantwortenden Verfall ethischer Werte anerkannt sind, hatte Marx wieder Stimmen gegen sich, die seine Musik diesmal groteskerweise als reaktionär bezeichneten.
Nur ein Jahr nach ihrer skandalösen Uraufführung wurde die Herbstssymphonie vom Klangspezialisten Clemens Krauss entdeckt und von ihm in den Jahren bis 1927 in Wien und in Graz mehrere Male aufgeführt. Erst jetzt kamen die wahren Qualitäten des Werkes zum Vorschein: Sämtliche Aufführungen unter Krauss wurden zu einem sensationellen Erfolg, und der Premierenskandal vom Februar 1922 war vergessen. Doch die Komplexität und Schwierigkeit des Mammutwerkes blieb. Nur so ist es zu erklären, daß sich nach 1927 nie wieder ein Dirigent an die Herbstsymphonie herangewagt hat und das Aufführungsmaterial somit unglaubliche 78 Jahre lang in den Archiven der Universal Edition verstaubte. Erst am 24. und 25. Oktober 2005 in Graz (Großes »recreation«-Orchester Graz unter Michel Swierczewski) wurde das Werk endlich wiederaufgeführt, und legt man die überschäumenden Kritiken zugrunde (u.a. in »Die Presse«, »Kronen-Zeitung«, »Kleine Zeitung« und »Der Standard«), kam es hier zu einer Wiederholung des riesigen Erfolgs der Herbstsymphonie aus der Grazer Konzertgeschichte der 1920er Jahre.
»Joseph Marx ist für die Erhaltung der Musikkultur der Zukunft absolut nötig.« (Pablo Casals, Cellist)
Die ersten Skizzen zur Herbstsymphonie stammen aus dem Jahre 1916. Das Ziel des Komponisten bestand darin, die Stimmungen, die das Gemüt des Menschen im Herbst bewegen, zum Gegenstand musikalischer Darstellung zu machen - der Verlauf des Jahres, das Werden und Vergehen in der Natur als ewiges Symbol des menschlichen Lebens. Es sind also Stimmungen des Ernteglückes, des Reifens, dann wieder Gedanken an den Abschied von den Freuden des Sommers und an das Kommen des nahenden Winters, die den Gefühlsinhalt des Werkes bilden. Der Herbst hat den Komponisten vielfach inspiriert, so beispielsweise in Herbstchor an Pan (einer großangelegten, einsätzigen Kantate von 1911, die als Vorbote der Herbstsymphonie gilt), Herbstlegende für Klavier und den beiden Liedern An einen Herbstwald und Septembermorgen.
Unmittelbar nach Fertigstellung der Herbstsymphonie sollte der Komponist sich erneut mit den Jahreszeiten beschäftigen, als er 1922-25 die Natur-Trilogie für Orchester schrieb, bestehend aus Symphonische Nachtmusik (sinnlichste Beschreibung einer Sommernacht), Idylle (sonnendurchflutete Weingärten im Spätsommer) und Eine Frühlingsmusik (Beschreibung des Wiedererwachens der Natur im Frühling). Insbesondere den in der Herbstsymphonie enthaltenen Aspekt der Vergänglichkeit verarbeitete Marx abschließend in seinem 1932 fertiggestellten Orchesterliedzyklus Verklärtes Jahr, in welchem er explizit Themen und Motive aus der Herbstsymphonie wiederverwendete. Doch das überwältigende Ausmaß an ungezügelter Leidenschaft, welches die Herbstsymphonie auszeichnet, wurde von ihm nie wieder auch nur annähernd erreicht, was jedoch sicherlich auch nicht Ziel des Komponisten war. Denn die Herbstsymphonie sollte und mußte ohne Zweifel einen Höhepunkt bilden, der keine weitere Steigerung mehr zuließ.
Obgleich an keiner Stelle rein atonal, war die Herbstsymphonie den meisten Traditionalisten der damaligen Zeit, mit denen Joseph Marx gern in einen Topf geworfen wird, viel zu modern. Doch Marx war von Natur aus ein Rebell und wollte modern sein, ohne jedoch zur Avantgarde gezählt zu werden, die für ihn keine echte Zukunftschance besaß. Mit seiner Herbstsymphonie, die sich jeder Kategorisierung in Richtung Spätromantik, Impressionismus, Expressionismus oder Modernismus entzieht, schuf der Komponist ein Werk, das dank seiner Einmaligkeit und Individualität den bekannten großen Symphonien des 20. Jahrhunderts in nichts nachsteht. Mit einer Aufführungsdauer von rund 75 Minuten sogar deutlich länger als das ähnlich groß besetzte Naturgemälde Eine Alpensinfonie von Richard Strauss, hat die Herbstssymphonie in vielfacher Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt und das bis dahin klanglich Bekannte in eine neue Dimension geführt. Im Gegensatz zur Alpensinfonie wird in der Herbstsymphonie das Bacchantische und Dionysische in seiner reinsten Form zelebriert, so wie es nur dem Geiste eines ausgewiesenen Mystikers und Hedonisten wie Joseph Marx entspringen konnte.
Die Herbstsymphonie ist für ein großes Symphonieorchester geschrieben, u.a. mit einer 4-fachen Holzbläserbesetzung sowie 6 Hörnern, 4 Trompeten, 3 Posaunen und 1 Baßtuba. Die typisch Marxsche Klangfärbung wird vom Klavier, der Celesta und zwei Harfen übernommen. Die Streicher sollen nach den Vorgaben des Komponisten »sehr groß« besetzt sein, denn nur so ist es möglich, gegen die riesige Schlagwerkbesetzung, die an einigen Stellen der Herbstssymphonie vollständig zum Einsatz kommt, überhaupt bestehen zu können: Zusätzlich zu den Pauken sind sage und schreibe 9 Schlagzeuger erforderlich, so daß die Herbstsymphonie diesbezüglich durchaus mit Arnold Schönbergs Gurrelieder zu vergleichen ist.
Man kann sagen, daß die Herbstsymphonie genau dem Maßstab gerecht wird, an dem auch Marx selbst, der in vielerlei Hinsicht ein Mensch der Extreme war, bis zu seinem Tode gemessen wurde. Das Hauptwerk eines Künstlers von einer anerkannten fachlichen Kompetenz und den überbordenden Lebensdimensionen eines Joseph Marx konnte natürlich nicht weniger exzessiv ausfallen. Dabei ist es neben der vor Marxscher Kühnheit nur so strotzenden Schlagwerkbesetzung vor allem die bestechende Modernität aus harmonischer Sicht, die diese Symphonie auszeichnet. So war Marx, auch wenn er im Gesamtkonzept seiner Kunst stets der Tradition seiner Zeitgenossen Mahler, Strauss und Schreker verpflichtet war, zumindest als ein sich zur Tonalität bekennender Komponist seiner Zeit voraus und präsentierte dem Hörer mit der Herbstsymphonie eine höchst einprägsame und eigenwillige Tonsprache, die sich von den Stilen seiner wesensverwandten Zeitgenossen fühlbar unterscheidet.
In Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Band 8, 1960, S. 1738-39) charakterisierte Hans Jancik den Musikwissenschaftler Joseph Marx wie folgt:
»Als Ausgleich gegen die stets überquellende Phantasie ist dem wissenschaftlich hochgebildeten Musiker ein scharfes Denken zueigen, das Inhalt und Form in Übereinstimmung zu bringen sucht.«
Genau diesem Prinzip folgend, hat Marx die Hauptthemen der Herbstsymphonie zwischen den einzelnen Sätzen raffiniert verwoben und in immer neue klangliche Gestalten transformiert. Damit verzichtete Marx bewußt auf den klassischen formalen Aufbau einer Symphonie und entschied sich stattdessen für rhapsodische Entwicklungen und überraschende Moll-Dur-Variationen seiner Hauptthemen. Je intensiver man die Partitur analysiert, desto perfekter erscheint die Gesamtstruktur des Werkes, in welchem sich jeder Kreis, den Marx durch die Aufnahme oder Reprise eines Themas öffnet, zu gegebener Zeit wieder schließt. Somit stellt sich die Herbstsymphonie nicht nur in ihren unzähligen polyphon vertrackten Momentaufnahmen als äußerst vielschichtiges Gebilde dar, sondern ist vor allem in ihrer Gesamtheit ein aufs Komplexeste konstruiertes, durch und durch logisches Meisterwerk.
»Das ist große Musik!«
Riccardo Chailly
Das in den Herbstmonaten des Jahres 1921 komponierte und der Lebensgefährtin des Komponisten – Anna Hansa – gewidmete Werk besteht aus vier Sätzen, wobei die ersten beiden Sätze ohne Pause gespielt werden. Der erste Satz trägt den Titel »Ein Herbstgesang« (H-Moll; Bewegt). In den ersten Takten steht dem sehr einprägsamen, von den Celli vorgetragenen Hauptthema der Symphonie ein kompliziert gewobener Effekt aus Klavier, Celesta und zwei Harfen gegenüber, der einen Moment lang an Franz Schrekers Oper »Die Gezeichneten« erinnert, sich dann jedoch beinahe durch den gesamten ersten Satz hindurchzieht. Dem Kenner offenbart sich schon hier die meisterhafte Technik des Komponisten: Denn jedes dieser Klangfärbungsinstrumente tritt für sich gesehen harmonisch und rhythmisch komplex in Erscheinung und scheint der Tonalität bereits entrückt zu sein, doch in ihrem Zusammenspiel ergibt sich daraus für den ersten Satz eine geheimnisvolle Grundstimmung, mit der ein völlig neuartiger, postimpressionistisch vibrierender Klangteppich erzeugt wird. Das Wechselspiel führt zu einer kurzen Steigerung, woraufhin das Hauptthema in noch größerer Besetzung wiederaufgenommen und in geradezu rauschhaften Passagen variiert und weitergeführt wird. Unterdessen erklingt eine Passage, die Reminiszenzen an eines der Marxschen Vorbilder, Alexander Skrjabin, heraufbeschwört, gefolgt von einer vom gesamten Orchester vorgetragenen Abwandlung des Hauptthemas bis hin zu einem orgiastischen Höhepunkt, von dem aus wieder Ruhe einkehrt und ein fließender Übergang zum zweiten Satz stattfindet.
Im zweiten Satz, »Tanz der Mittagsgeister« (Es-Dur; Sehr rasch), dichtet Marx den poetischen Volksglauben, daß sich in der Mittagszeit auf den Waldwiesen und in Weingärten Nymphen und Faune zu einem bunten Reigen einfinden, in Tönen nach. Bei oberflächlicher Betrachtung wienerisch-ländlerisch, beschäftigt sich dieser Satz mit der Schilderung tummelnder Bewegung, des Glänzens und Flirrens der sonnenbestrahlten Mittagswiesen. Die stellenweise auch ballettartige Musik erinnert hier an das zur selben Zeit entstandene La Valse von Maurice Ravel und – hinsichtlich der chromatischen Flötenläufe und Harfeneffekte – auch an Ravels Daphnis et Chloé. Schließlich gipfelt der Satz in einem berauschenden Höhepunkt mit Mittagsglocken, woraufhin wieder Ruhe einkehrt, wenn die Naturgeister sich in ihre unsichtbare Welt zurückziehen. Die Partitur bietet für diesen Satz zwei alternative Schlußtakte: Ursprünglich war laut Marx ein ruhiges Ausklingen vorgesehen; in einer neueren Fassung, die in die Druckversion der Partitur eingefügt ist, bietet der Komponist als Alternative einen lauten Schlußschlag an. Die Wahl überlässt er dem Dirigenten.
Der dritte Satz, »Herbstgedanken« (D-Dur; Ruhig), bildet den Ruhepol der Herbstsymphonie. Im Gegensatz zu den anderen Sätzen verzichtet Marx hier bewußt auf die Klangeffekte des Klaviers, der Harfe, der Celesta und des Schlagwerks. Lediglich die Pauken kommen hier zum Einsatz. Nach einem Delius-artigen, eher noch an Arnold Bax erinnernden, impressionistisch anmutenden Beginn zeigt sich hier Marxens Affinität zum Symphoniker Mahler. Auch hier finden sich, wie im 1. Satz, erneut melancholisch-sehnsüchtige Themensteigerungen und rhapsodische Naturstimmungen. In der Mitte dieses Satzes erklingt eine an Wagner gemahnende, von tiefer Traurigkeit durchzogene Streicherpassage, die sich langsam aber unaufhörlich und von breiten Paukenwirbeln begleitet zu mehreren aufeinanderfolgenden Gefühlsausbrüchen fortentwickelt, bis dieser außergewöhnliche, tief bewegende Satz mit Streicher- und Klarinettenklängen zu demselben kontemplativen Schluß kommt, mit dem er auch begonnen hatte. So schließt sich der Kreis der herbstlichen Abschiedsgedanken in geradezu seliger Vollkommenheit.
Der vierte und letzte Satz, »Ein Herbstpoem« (ursprünglich: »Ernte und Heimkehr«; zunächst D-Dur, am Ende H-Dur), wurde von Marx im Jahre 1946 unter den beiden Alternativtiteln »Herbstfeier« und »Feste im Herbst« als symphonische Dichtung neu arrangiert (mit Kürzungen und zahlreichen Detailunterschieden gegenüber dem 4. Satz der Symphonie) und gesondert herausgegeben (die »Herbstfeier« ist ebenfalls bei der Universal Edition verlegt). Eine weitere, stark verkürzte Tondichtung namens »Sinfonische Tänze«, die ebenfalls durch Materialentnahme aus dem 4. Satz entstanden sein muß und von der lediglich eine Tonaufnahme der Wiener Symphoniker unter Karl Etti vorliegt, gilt hingegen als verschollen.
Der mit »Sehr bewegt« überschriebene vierte Satz der Herbstsymphonie beginnt mit einer turbulenten Schilderung des jubelnden Erntetreibens, in der Motivfragmente aus den früheren Sätzen wiederauftauchen. Die Bewegung führt zu einem alten Weingärtentanz, der dann in eine Misterioso-Stimmung übergeht, ein geheimnisvolles Notturno, in dem die Sterne funkeln und Grillen zirpen. Nun folgt eine rhythmische, tänzerisch-ländlerische Passage südländischer Prägung, in der erstmals das Xylophon streckenweise sogar solistisch eingesetzt wird, und neben ihm auch ein Teil des vollbesetzten Schlagwerks. Nach hymnischer Verarbeitung des Tanzthemas und einem Blechbläserchoral kommt es zu einer Steigerung, die nun mit Begleitung der Pauken in schwelgerischster Harmonieführung auf einen orgiastischen Gipfel hinaufgetragen wird. Mutig greift eine Solovioline ein, während die anderen Instrumentengruppen frei improvisierend mit Motiven der vier Sätze hinzukommen. Nach Vereinigung aller Hauptthemen und einer dramatischen, kontrapunktisch meisterhaften Steigerung gipfelt der vierte Satz unter Aufbietung des gesamten Orchesterapparates in einem gigantischen, allumfassenden Höhepunkt von skrjabinschen Ausmaßen, woraufhin das Anfangsthema des ersten Satzes nun mit Marx-typisch weitläufigen, ruhigen Melodienbögen in Dur erklingt und dabei eine zutiefst wehmütige Stimmung erzeugt. So endet die Herbstsymphonie in Ehrfurcht vor der Vergänglichkeit und Wiederkehr allen Lebens und fügt sich sehnsuchtsvoll in den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen.
© Joseph-Marx-Gesellschaft
URL: http://www.joseph-marx-gesellschaft.org/de/Riccardo_Chailly_Herbstsymphonie.html, Stand 21.05.2014 10:34:27